„Die Grünen haben die Klimakrise nicht erfunden“ – Interview mit der spanischen Wochenzeitung NIUS

Das Interview erschien zuerst auf Spanisch bei NIUS.

F: Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass die Grünen auf dem Weg sind, von der kleinsten Partei im Bundestag zur größten Partei im Parlament zu werden?

Schäfer: Es gibt viele drängende Themen, die die Bevölkerung beschäftigen und für die wir gute inhaltliche Antworten parat haben. Ein wichtiger Grund ist sicherlich, dass wir Grüne den Umweltschutz schon vor 40 Jahren in die politische Debatte gebracht haben und dieses Thema nun ganz oben auf der Tagesordnung steht.

Die Menschen haben erkannt, dass wir nur noch ein kleines Zeitfenster haben, um die Klimakrise kontrollierbar zu halten. Sie haben auch die ersten Auswirkungen dieser Krise zu spüren bekommen, zum Beispiel durch die Hitzesommer in den letzten Jahren. Da wir uns schon sehr lange programmatisch mit ökologischen Krisen beschäftigen, sind wir bei der Lösung dieser Probleme natürlich glaubwürdig.

F: Auf welche anderen Themen stützen sich die Grünen bei ihrem derzeitigen Aufschwung?

Schäfer: Wir wollen den Weg in die Klimaneutralität mit einem neuen sozialen Sicherheitsversprechen verbinden. Wir investieren in eine funktionierende soziale Infrastruktur und zukunftsfähige Arbeitsplätze. Nach Jahren unambitionierter Politik, die die Probleme immer weiter in die Zukunft verschoben hat, wollen wir die strukturellen Maßnahmen, die es braucht, um unser Land zukunftsfähig aufzustellen, endlich angehen.

Und ich denke, es gibt noch einen dritten Punkt, der vor allem mit einer grundsätzlichen Haltung zur Politik tun hat. Etwa die Maskendeals, in die vor allem Konservative Abgeordnete verstrickt sind, zeigt sich ein grundsätzliches Problem mit Interessenskonflikten. Die Konservativen haben sich immer gegen Maßnahmen, um Interessenskonflikte zu verhindern, gewehrt, wie etwa gegen die Einführung eines effektiven Lobbyistenregisters für Parlamentarier. Wir Grüne wollen auch hier einen Strukturwandel für eine bessere Trennung von politischem Handeln und privatwirtschaftlichen Interessen Einzelner.
Mit der Kanzlerkandidatur von Annalena Baerbock sind unsere Werte in den Umfragen angestiegen, weil viele Menschen sich eine Erneuerung wünschen und Annalena Baerbock steht dafür.

F: Sie spielen auf die Fälle von konservativen Politikern an, die in der Pandemie Provisionen für Maskenverkäufe kassiert haben. Auch die sozialdemokratische Familienministerin Franziska Giffey ist wegen einer angeblichen Plagiatsaffäre in ihrer Doktorarbeit zurückgetreten. Nutzt es den Grünen, dass CDU und SPD schon so lange an der Regierung sind?

Schäfer: Es ist schwer zu sagen, ob diese Themen am Ende wahlentscheidend sein werden. Aber ich denke, die Korruptionsfälle zeigen, dass vor allem die Union etwas zu lange an der Macht ist. Bei vielen Menschen ist der Eindruck entstanden, persönliche Interessen stünden vor dem Allgemeinwohl. Annalena Baerbock hat als Person einen anderen Politikstil, bei dem das Interesse am Wohl aller klar im Vordergrund steht.
Als Annalena Baerbock noch Landespolitikerin in Brandenburg war, hat sie ihren dialogorientierten Ansatz schon bewiesen. Sie hat das Thema Klimaschutz nie mit einem Tunnelblick verfolgt, immer im Gespräch mit denjenigen, deren Arbeitsplatz von Kohleabbau abhängt, die Angst vor ökologischen Veränderungen haben. Diese Art, Politik zu machen, den Menschen etwas zuzutrauen und zuzuhören, ist etwas, was in der Politik der „Großen Koalition“ fehlt. Viele in der Gesellschaft haben erkannt, dass es den Grünen darum geht, die ganze Gesellschaft im Blick zu haben.

F: In Ihrer Partei sprechen Sie davon, eine „ökologische und soziale Transformation“ durchführen zu wollen. Was meinen Sie damit?

Schäfer: Es bedeutet, dass wir deutlich früher aus der Kohle aussteigen wollen – bis spätestens 2030. Und dass wir eine Mobilitätswende schaffen wollen, zum Beispiel in dem wir ab 2030 nur noch Autos ohne Verbrennungsmotoren neu zulassen. Wir wollen außerdem in Schienenverkehr investieren und ein europäischens Nachtzugnetz schaffen und dadurch kurze Reisen mit dem Flugzeug vermeiden. Auch im Hinblick auf die Industrie und andere Sektoren müssen wir die Weichen auf Klimaneutralität stellen.

F: Der Verband der Familienunternehmen, der 180.000 deutsche Unternehmen vertritt, stimmt zu, dass das Programm der Grünen „antikapitalistisch“ ist. Was würden Sie diesen Unternehmen sagen, die Ihr Programm fürchten?

Schäfer: Unser Vorschlag ist ja, dass wir ein Niveau an ökologischen Standards für das Wirtschaften erreichen wollen, auf dem jeder seine Geschäfte machen kann ohne dass soziale und ökologische Ziele auf der Strecke bleiben.
Das gibt Unternehmen einen rechtlichen Rahmen und Sicherheit beim gemeinsamen Weg ins Zeitalter der Klimaneutralität. Dass sich viel ändern muss, liegt auf der Hand. Wir Grüne haben die Klimakrise nicht erfunden. Aber wir sind diejenigen, die den Handlungsbedarf klar sehen und dafür konkrete Lösungen anbieten. Die Frage ist nun, ob wir handeln, solange die Krise noch beherrschbar ist, oder ob wir die Probleme noch größer werden lassen.

F: Was würde sich in der deutschen Außenpolitik mit den Grünen in der Regierung in Bezug auf China und Russland ändern, Regime, die ein anderes System als das demokratische für die Welt vorschlagen, wie US-Präsident Joe Biden auf der letzten Münchner Sicherheitskonferenz sagte?

Schäfer: Ausgangspunkt für die deutsche Außenpolitik ist für uns eine gestärkte und verhandlungsfähige Europäische Union. Und wir wollen, dass die Werte, auf denen die EU gegründet wurde – Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – sowohl innerhalb Europas als auch darüber hinaus gestärkt werden. Dazu braucht es eine aktive Außenpolitik in einem multilateralen Sinne und geleitet von kohärenten Werten.
Auf der Suche nach gemeinsamen Lösungen für dringende Herausforderungen wie die Bekämpfung der Klimakrise wollen wir weltweit Partner suchen. Selbstverständlich ist die Biden-Administration gerade bei diesem Ziel ein guter Partner. Wir brauchen aber auch mehr Zusammenarbeit in Europa. Im Moment gibt es einen Wettbewerb der Systeme, zwischen „Demokratie“ und „Autokratie“, und wir wollen, dass demokratische Ansätze und Mulitlateralismus am Ende dieses Jahrhunderts gestärkt und nicht geschwächt sind. Das bedeutet aber auch, dass die EU als Friedensstifterin glaubwürdiger werden muss und wir eine zweigleisige Politik des Dialogs und der Härte gegenüber Akteuren wie China und Russland brauchen.

F: Wie kann die EU Ihrer Meinung nach diese Glaubwürdigkeit gewinnen?

Schäfer: In erster Linie müssen wir eine geschlossenere EU anstreben, wenn es um die Außen- und Sicherheitspolitik geht. Dazu müssen wir in der EU das Einstimmigkeitsprinzip durch Mehrheitsentscheidungen ersetzen. Außerdem gilt es, die Macht des EU-Binnenmarktes zu nutzen, um weltweit Standards für Menschenrechte, Nachhaltigkeit und Rechtsstaatlichkeit zu setzen. Wir wollen auch auf europäischer Ebene eine stärkere Kontrolle über die Waffenexporte der EU einführen, mit transparenten und konsequenten Regeln, um zu vermeiden – was jetzt schon häufiger passiert ist – nämlich dass europäische Länder Konfliktparteien gegenseitig hochrüsten.
Wir wollen auch einen Dialog mit der NATO über nukleare Abrüstung aufnehmen und Schritte zur Reduzierung der Atomwaffen in der Welt unternehmen. Wir wissen, dass dies ein schwieriger und harter Weg ist, aber wir wollen ihn beschreiten. Ein wichtiger Schritt für die Glaubwürdigkeit Europas ist auch, Menschenrechte bei der Verfolgung wirtschaftlicher Interessen nicht länger hintenanzustellen. Das sehen wir schon viel zu lange, beispielsweise in Bezug auf den Umgang mit der uigurischen Minderheit in China. Aber wir müssen auch vor der eigenen Haustür kehren.

F: Was meinen Sie?

Schäfer: Man muss sich nur die Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen anschauen. Es braucht endlich ein regelbasiertes System, in dem Rechtsstaatlichkeit eingehalten wird und die Geflüchteten auf die aufnahmebereiten Länder der EU verteilt werden.
Damit wird verhindert, dass dieses Thema immer weiter die Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der EU und auch unsere Werte- und Rechtsordnung untergräbt. In dieser Frage müssen wir endlich weiterkommen. Unsere bisherige Regierung hat leider nicht viel getan, um die Grenzstaaten zu entlasten und Menschenrechte einzuhalten.

F: War das Abkommen mit der Türkei zur Beendigung der Flüchtlingskrise von 2015 und 2016 nicht eine gute Lösung Welche andere Möglichkeit gibt es, um zu verhindern, dass Länder wie die Türkei oder Marokko die Einwanderungsfrage ausnutzen?

Schäfer: Es ist wahr, dass die Flüchtlingsankünfte ersteinmal zurückgegangen sind. Aber damit hat sich die EU doch erst Recht erpressbar gemacht. Selbst Gerald Knaus, der Architekt des Abkommens mit der Türkei, hält das Abkommen mittlerweile für gescheitert. Die überfüllten Flüchtlingslager mit miserablen Bedingungen wie in Moria sind eine menschenrechtliche Katastrophe und ein Problem für die politische Handlungsmacht der EU. Eine Politik, mit der das Leid von Menschen als Abschreckung genutzt werden soll, ist auch moralisch nicht akzeptabel. Natürlich müssen wir trotzdem Länder wie die Türkei weiterhin bei der Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten unterstützen. Aber das Problem liegt vor allem auch bei der Frage, was passiert, wenn Geflüchtete nach Europa kommen. An einer zügigen Verteilung führt kein Weg vorbei, auch um die Erpressbarkeit der EU zu reduzieren.
Ich habe mit lokalen Vertretern in Griechenland, Italien, Malta und Spanien gesprochen. Sie alle sagten mir, dass der Schlüssel in einem gemeinsamen Vorstoß für ein funktionierendes Verteilsystem liegt. Unser Vorschlag ist ein System der verstärkten Zusammenarbeit, bei dem wir den Staaten an den EU-Grenzen Kontingente an Flüchtlingen abnehmen und diese auf die aufnahmewilligen EU-Staaten verteilen und dort die Verfahren durchführen. Dies würde die Anreize für systematische Menschenrechtsverletzungen reduzieren und dafür sorgen, dass uns das Thema in Europa politisch nicht länger lahmlegt.

F: Solche Pläne werden Länder wie Ungarn nicht akzeptieren.

Schäfer: Das wissen wir. Es gibt Regierungen wie die von Viktor Orbán, die ihren Teil der Verantwortung für die Flüchtlinge nicht leisten und vom Problem profitieren wollen. Aber es gibt Länder, die Flüchtlinge aufnehmen wollen, und diese Staaten sollten nicht länger damit warten, etwas zu tun. Es gibt viel Spielraum für die europäische Zusammenarbeit in diesem Bereich, der bisher nicht genutzt wird.

F: Fehlt in der Debatte über Einwanderung in Europa die Erkenntnis, dass Europa ein alternder Kontinent ist und dass eine der Lösungen zur Verjüngung unserer Bevölkerung die Einwanderung ist? Die Alterung der Bevölkerung ist für Deutschland besonders wichtig.

Schäfer: Das ist wahr. Wir haben in Deutschland einen enormen Fachkräftemangel. Es gibt viele Geflüchtete, deren Asylanträge abgelehnt werden, obwohl sie bereits einen Beruf erlernt haben und aufgrund ihrer Qualifikationen in Deutschland gebraucht würden. Dadurch haben einige Unternehmen das Problem, dass sie auf einmal wieder von vorne anfangen müssen, wenn sie eine geflüchtete Person ausgebildet haben, die dann auf einmal abgeschoben wird. Deshalb wollen wir einen Spurwechsel für Asylbewerber*innen schaffen und die Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern. Das hilft vielen Menschen, die hier leben und arbeiten wollen und auch vielen Unternehmen.

Die deutschen Grünen haben in Europa den Ruf, eine der pro-europäischsten Parteien zu sein. Was wollen die Grünen tun, damit Europa nicht zu einem „politischen Zwerg“ oder gar zu einem „militärischen Wurm“ wird?

Schäfer: Unsere Partei war die erste in Deutschland, die von der Notwendigkeit gesprochen hat, Coronabonds – also gemeinsam finanzierte Investititonen zu schaffen. Die jetzige Regierung war zuerst dagegen. Aber schließlich wurde es verstanden, dass bei einer Krise der ganze EU-Binnenmarkt auf dem Spiel steht. Es gibt große internationale Herausforderungen und wir müssen uns innerhalb der EU besser einigen, wie wir gemeinsame Wege finden, damit umzugehen. Wir Grüne wollen, dass Deutschland hierfür eine konstruktivere Rolle einnimmt.
Darüber hinaus ist es sehr wichtig, dass Europa eine gemeinsame Zukunftsvision. Denn ohne die kommt man schwerer zu Ergebnissen und das schürt Frust mit der EU als Solche.

F: Welche Rolle sollte die EU dann spielen?

Schäfer: Ich denke, dass es im gegenwärtigen internationalen Kontext des Wettbewerbs für Europa äußerst wichtig ist, der Anker für glaubwürdige Werte und Multilateralismus in der Welt zu sein. Die EU muss sich Hand in Hand mit den USA und mehrheitlich ökologisch orientierten Ländern, wie zum Beispiel in Asien und Lateinamerika den Weg zur ökologischen und sozialen Transformation vormachen. Ich sehe Europa als ein potenzielles Beispiel für eine erfolgreiche multilaterale Zusammenarbeit bei der Transformation von Industrie- und Arbeitstranswelt. Darüber hinaus muss die EU in der Lage sein, verschiedene internationale Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bringen.

F: Sie haben vorhin davon gesprochen, wie schwierig es in Deutschland war, die gemeinsamen europäischen Schulden angesichts der Auswirkungen der Pandemie zu akzeptieren. Bei der CDU zum Beispiel ist diese Maßnahme eine Ausnahme, bei den Grünen auch?

Schäfer: Der Europäische Wiederaufbaufonds ist ein wirklich wichtiges Projekt, auch um jungen Menschen in den Ländern Südeuropas eine Perspektive zu geben, um zu zeigen, dass Europa nicht etwas ist, das Perspektiven raubt, sondern sie bietet. Wir haben eine gemeinsame Währung in Europa, aber wenn wir diese Währung nicht gemeinsam stabilisieren, wenn wir ein Land gegen ein anderes ausspielen, wird das zu weiteren Krisen führen. Die EU braucht eine gemeinsame Fiskalpolitik, nicht nur als Ausnahme. Das, was ich Ihnen sage, wird mittlerweile auch von konservativen Ökonomen in der öffentlichen Debatte gesagt. Bis progressive Ideen akzeptiert werden, dauert es manchmal länger. Aber es tut sich was in dieser Debatte.

F: Die Grünen sprechen in ihrem Programm von deutlichen Steuererhöhungen. Sprechen diese fiskalischen Vorstellungen für die Präferenz der Grünen für eine mögliche Koalition mit den Sozialdemokraten und der Partei Die Linke?

Schäfer: Von unseren Vorschlägen würde ein Großteil der Haushalte in Deutschland profitieren. Aber das Problem mit den Konservativen ist, dass sie sich aktuell ideologisch gegen eine Lockerung der Schuldenbremse stellen und gleichzeitig auch gegen Steuererhöhungen sind. Da ist schon die Frage, wie sie die riesigen Investitionen nach der Krise stemmen wollen. Die CDU/CSU hat bisher auch kein Programm vorgestellt, weil sie sich in wichtigen Fragen offenbar nicht einigen kann.
Ich denke, dass eine stabile Regierung bei solchen Fragen einen klaren Plan braucht. Es gibt viele Möglichkeiten für künftige Koalitionen, auch mit der SPD, der Linkspartei oder der FDP.  Es gilt nun, möglichst viele Menschen von unseren Inhalten zu überzeugen, verhandlungsfähig sein und dann nach der Wahl eine Regierung mit einer gemeinsame Vision der Zukunft zu schmieden. Ich persönlich glaube, dass das in einer Regierung ohne Union besser klappen würde, weil die Konservativen im Moment noch sehr mit ihren eigenen Konflikten beschäftigt sind. Letztendlich müssen wir aber die Ergebnisse am 26. September abwarten.

zurück
Weitere Beiträge