Was wir aus dem Brexit lernen können
Am letzten Freitag hat Großbritannien die Europäische Union verlassen. Zwei Tage vorher verabschiedeten sich die Parlamentarier*innen im Europäischen Parlament tränenreich von ihren britischen Kolleg*innen. Der Brexit ist nicht nur ein trauriger Tiefpunkt der europäischen Einigung, sondern auch ein Lehrstück über autoritären Populismus(1).
Sowohl David Cameron als auch Boris Johnson wollten den Brexit nicht. Der Eine nutze die antieruopäische Stimmung aus, um an die Macht zu kommen, der Andere initiierte das Referendum, um an der Macht zu bleiben. Daher gilt der Brexit auch als folgenreicher Unfall eines skrupellosen Schauspiels machtbesessener Politiker.
Die Repräsentationskrise
Warum konnte dieser Unfall überhaupt passieren? Alle Gründe können an dieser Stelle nicht erschöpfend genannt oder analysiert werden. Offensichtlich ist der Brexit das Resultat einer Krise politischer Repräsentation. Die Leave-Kampagne dockte mit ihrem Slogan „Take back Control“ erfolgreich an das Bedürfnis an, mehr Kontrolle über demokratische Entscheidungsprozesse zu erlangen und „den EU-Bürokraten“ die Leviten zu lesen.
Für das Entstehen dieser Repräsentationskrise können vielfältige Gründe herangezogen werden: das extrem undurchlässige britische Bildungssystem, das Mehrheitswahlrecht oder auch die neoliberale Privatisierungspolitik der letzten 40 Jahre, die die sozialen Lebensrealitäten der Menschen in Großbritannien immer weiter und sichtbater auseinandertrieb.
Darüberhinaus entzauberte sich mit der Eurokrise das neoliberale Glücksversprechen, das wettbewerbsstaatlichen, neoliberal motivierten Integrationsschritten der EU in den Jahrzehnten davor ihre Legitimation verschaffte.
Der Politikwissenschaftler Lukas Oberndorfer (2012) argumentiert: Die auf Wettbewerb fokussierte Integrationsweise habe sich viele Jahre als „,im Allgemeininteresse’ stehende Lösung drängender sozialer, volkswirtschaftlicher und politischer Probleme in Szene setzen“ können (Oberndorfer 2012, 54), während die Krise nun die „imaginativen Bilder des Neoliberalismus verblassen“ ließe (ebd. 49).
Einige Analysen sehen im Erfolg der Leave-Kampagne und des autoritären Populismus vor allem Ausdruck einer Rebellion der Ohnmächtigen gegen „die da oben“. Doch gerade am Beispiel des Brexits zeigt sich deutlich, dass der autoritäre Populismus tatsächlich vor allem ein Machtinstrument gegen „die da unten“ ist.
Das eigennützige Bündnis der Mächtigen mit den Ohnmächtigen
Der Soziologe Alex Demirović sieht im autoritären Populismus eine Strategie, die in offensichtlichen Repräsentationskrisen von einem Teil der Entscheidungsträger*innen als Mittel zur eigennützigen Machtsicherung eingesetzt wird:
„Um erfolgreich zu sein, kritisieren sie nicht nur dominante Politik innerhalb des Machtblocks, sondern stützen sich auf die Unzufriedenheit der Subalternen gegen ‘die da oben’ und mobilisieren gegen die politische Klasse – obwohl sie selbst […] an der Führung der politischen Geschäfte teilnehmen.“
Demirović 2018, 29
Der autoritäre Populismus erzeugt demnach also vereinfacht gesprochen ein strategisches Bündnis zwischen „Mächtigen und Ohnmächtigen“ mit dem Ziel, die wirkliche Lösung gesellschaftlicher Probleme zu blockieren:
„Gleichzeitig gibt es Bemühungen, die Repräsentationskrise zu verstärken und auf das volatil gewordene Verhalten der Wähler_innen Einfluss zu nehmen, indem ihnen Radikalität, Handlungsfähigkeit und Lösungen versprochen werden, die mehr oder weniger ohne Risiko sind, weil sie die Herausforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung nicht oder kaum berühren und zulasten von Schwachen und Minderheiten gehen. Die Subalternen greifen diese Angebote auf, weil sie sich auf diese Weise Gehör verschaffen können, sie können radikale Kritik äußern, ohne wirklich in einen antagonistischen Konflikt mit den Herrschenden zu geraten.“
(Demirović 2018, 41)
Die konformistische Revolte
Genau diese Strategie lässt sich bei der Leave-Kampange beobachten, die vorgibt, es ginge um wahre Demokratie. Tatsächlich ist sie mit all ihren falschen Versprechungen, den Maniplulationsversuchen, der Ausgrenzungsrhetorik und den Pauschaldiskreditierungen gegenüber der Presse und der politischen Gegner*innen ein Frontalangriff auf demokratische Willensbildungsprozesse. Ihre „Herrschaftskritik“ erschöpft sich in wortgewaltiger Abgrenzung von einem Teil der Repräsentant*innen in der britischen Politik, zielte aber nie darauf ab, demokratische Ausschlüsse zu bekämpfen und neue Formen der Handlungsfähigkeit für die Gestaltung der Zukunft herzustellen. Das Versprechen lautete: Partizipation durch nationalistische Identifikation (und nicht Partizipation durch tatsächliche Mitgestaltung).
Das Brexit-Referendum kann als Rebellion gegen ein Represäntationsverhältnis angesehen werden, bei der es nie um eine nachhaltige Form der politischen Mitbestimmung ging, sondern eine konformistische Revolte.
Neue Bündnisse gegen die Ohnmacht
Solange der autoritäre Populismus erfolgreich genutzt werden kann, wird er die Gestaltungsspielräume demokratischer Politik weiter einschränken. Für Demokrat*innen resultiert daraus die Aufgabe, das falsche nationalistische Partizipationsversprechen zu widerlegen. Das gelingt nicht alleine mit Debatten über Wahrheit und Fakten, sondern mit einem Partizipationsversprechen, das überzeugender ist als der nationalistische Wahn. Die populistischen Einlassungen und machttaktischen Spielchen der Rechten können die Bedürfnisse nach Teilhabe in Wahrheit nicht erfüllen, sondern nur instrumentalisieren. Emanzipatorische Politik muss neue Handlungsspielräume eröffnen und ein zukunftsorientiertes positives Leitbild für die Europäische Einigung vorschlagen.
Dafür braucht es neue Bündnisse und Mehrheiten. Es gibt viel Bündnispotenzial zwischen der transnationalen Klimabewegung, der republikanischen Forderung nach mehr Transparenz und Bürger*innenbeteiligung und den sozialpolitisch motivierten Kritiker*innen bisheriger neoliberal orientierter Integrationsschritte. Sie alle eint das Ziel, ein Leben in Würde und Demokratie ökologisch und sozial zu ermöglichen.
Viele sozialpolitische Akteur*innen, wie etwa Gewerkschaften, agieren vorwiegend im nationalen Rahmen. Das ist ihnen kaum vorzuwerfen, sondern liegt vor allem an den bisherigen Handlungsspielräumen sozialpolitischer Auseinandersetzungen. Doch auch sie haben ein Interesse an der Europäisierung sozialer Standards und einer Abkehr von einer neoliberalen Politik, die immer wieder durch die Regierungen der Mitgliedsstaaten auf der europäischen Ebene vorangetrieben wurde. So wie alle, denen die Europäische Idee am Herzen liegt, haben sie ein Interesse daran, die massive soziale Spaltung in Europa zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, Nord und Süd und Ost und West zu überwinden.
Es gilt also soziale Kämpfe in einen europäischen Kontext zu stellen und mit demokratischen und ökologischen Gestaltungsansprüchen zu verbinden. Der Brexit darf nicht einfach als Tiefpunkt der europäischen Einigung in die Geschichte eingehen, sondern als Turningpoint für die Neubelebung des europäischen Projekts.
Es braucht eine europäische Zivilgesellschaft, die das Ruder herumreißt und den Motor der europäischen Integration neu begründet. Sozial, ökologisch und demokratisch. Demokrat*innen aller Länder vereinigt euch!
Fußnote:
1) Ich verwende den Begriff autoritären Populismus als Spezifizierung des Populismus-Begriffs, nicht um zu implizieren, dass es eine emanzipatorische oder nicht autoritäre Form des Populismus geben könnte, sondern um den autoritären Gehalt des Populismus zu betonen.
Quellen:
Demirović, Alex (2018): Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie. In: PROKLA. Bd. 48, Nr. 190: 27 – 48
Oberndorfer, Lukas (2012): Hegemoniekrise in Europa. In: Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (Hrsg.): Die EU in der Krise. Westfälisches Dampfboot: 49 – 71