Von Jubel, Wermutstropfen und Emanzipation: ein Blick auf die Europawahl

Jubel

Der Sekt ist getrunken. Der Kater überstanden. Zeit, den grünen Erfolg bei dieser Wahl unter die Lupe zu nehmen. Trotzdem sei nochmal kurz erwähnt, weil es so schön ist: Wir haben bundesweit und europaweit bei dieser Wahl unser bisher bestes Ergebnis erreicht!!

Der Rechtsruck ist nicht gestoppt

Auch in Irland, Großbritannien, Frankreich, Finnland, Luxemburg, Österreich und in den Niederlanden haben wir Grüne unsere eigenen Erwartungen übertroffen. Unsere Fraktion wird so stark sein wie nie zuvor. Doch der Jubel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Rechtsruck noch nicht gestoppt ist. Europaweit profitierten nicht nur Grüne, sondern neben den Liberalen auch die Rechten vom Machtverlust der Konservativen und der Sozialdemokratie. Die rechtskonservativen bis rechtsextremen Fraktionen ENF, EKR und EFDD konnten bei dieser Europawahl noch mehr Sitze dazugewinnen als 2014 nach der Finanzkrise.

Und auch in der Fraktion der Europäischen Konservativen gibt es Machtverschiebungen zugunsten einer Rechtsorientierung, wie zum Beispiel bei Fidesz unter Orban oder der ÖVP unter Sebastian Kurz.

Der gestiegenen Mobilisierung und Wahlbeteiligung ist es zu verdanken, dass diese Europawahl dennoch nicht zum Anti-EU-Referendum wurde, von dem die europäischen Rechten schon geträumt hatten.

Aber es kann uns nicht zufriedenstellen, dass das proeuropäische Mobilisierungspotenzial erst wieder zunahm, nachdem die Abrissbirne schon bereit stand.

Proeuropäer*innen vs. Abrissbirne?

Das Brexitreferendum, als Teil dieser „Abrissbirne“, ist selbst Audruck des Problems: Proeuropäische Kräfte sind lange zu defensiv und mutlos aufgetreten. Es ist unter anderem auch dank der Blockadepolitik unserer Bundesregierung nicht gelungen, europäische Politik näher an die europäischen Bürger*innen zu bringen, etwa durch transnationale Listen und echte Durchbrüche bei Steuertransparenz.
Auch darum ist die Frage „Status Quo erhalten oder Rückabwicklung der EU?“ (also „Ja vs. Nein zur EU“) in vielen europäischen Staaten noch immer eine wichtige Konfliktlinie und macht die autoritären und rechten Kräften zu relevanten Playern. Die Wahlsiege der Rechten in Ungarn, Großbritannien, Italien, Frankreich und Polen zeigen: Die Geschichte, die die Rechten anbieten, um Zukunftsängste, Verluste und Demütigungen zu „erklären“ und auf externe Sündenböcke zu projizieren, ist noch immer attraktiv. Und es scheint viele darüber hinwegzutäuschen, dass die Rechten außer identitären Streicheleinheiten keine politisches Antwort auf existenzielle politische Fragen haben. Und das ist weiterhin eine Gefahr für Demokratie, Menschenrechte, Frieden und die Errungenschaften der Europäischen Einigung.

Wenn du die AfD von der Bühne fegen willst, nimm dir das Mikrofon

Aber wenn progressive Politik Menschen ermächtigt, für ihre Zukunft aufzustehen, sieht der rückwärtsgewandte, ressentimentgetriebene Populismus der Rechten schnell alt aus.

Dass etwa das Ergebnis der AfD hinter den Erwartungen zurückblieb, lag nicht nur daran, dass Klimaschutz unter anderem in Deutschland zu DEM wahlentscheidenden Thema wurde.
Die AfD hätte mit ihrer Haltung gegen jegliche Klimaschutzmaßnahmen durchaus eine relevante Stellung als Fundamentalopposition in diesem Diskurs einnehmen können. Aber weil Fridays for Future, Rezo und Greta Thunberg gegen die Stillstandspolitik der Regierung in die Offensive gelangten, verlor die AfD ihre Rolle als provokante Impulsgeberin. Die gesellschaftliche Debatte zwischen progressiven Klimaschützer*innen und der Großen Koalition war so raumgreifend, dass die AfD in den letzten Wochen vor der Wahl gar nicht mehr auf die Bühne passte. Die Diskussion inspirierte viele Menschen dazu, selbst Teil der Veränderung zu sein. Klimaschutz war nicht mehr nur ein Nice to Have, eine Art Luxusprodukt unter den politischen Themen, das man auspacken konnte, wenn einen die Langeweile überkommt. Immer mehr Menschen wurde klar: Dieses Thema hat mit meinen existenziellen Zukunftsinteressen einiges zu tun.

Das Klima der Emanzipation

Das wurde begünstigt, weil die Debatte schon früh zur bipolaren Auseinandersetzung zwischen zukunftsorientierter und profitorientierter Politik wurde. Realitätsbasierte und ambitionierte Klimaschutzpolitik wurde mit Zukunftskompetenz assoziiert, während die verfehlten Klimaziele der GroKo zum Beweis der Zukunftsinkompetenz der Großen Koalition wurden – nicht zuletzt durch die ausführliche Kritik des Youtubers Rezo. Die unsouveränen Reaktionen aus dem Konrad-Adenauer-Haus taten ihr übriges, um die Zukunfts- und Kritikunfähigkeit der Konservativen in Szene zu setzen.

Vielen wurde spätestens hier klar, dass Konservativismus weniger mit Verantwortungsorientierung als mit Machtorientierung zu tun hat.
Aber noch viel spannender als der Konservativismus der Konservativen ist folgende Erkenntnis: Wird ein Momentum für progressive Inhalte genutzt, kann auch in kurzer Zeit durch ein gestiegenes Bewusstsein genug Druck erzeugt werden, um eine Beweislastumkehr zu erreichen. Fridays for Future hat das geschafft:

Nicht mehr diejenigen müssen sich rechtfertigen, die etwas ändern wollen, sondern diejenigen, die nichts ändern wollen und weiter für kurzfristige Profitinteressen große Schäden unserer Lebensgrundlagen in Kauf nehmen. Danke dafür!

Wir Grüne konnten das europaweit gestiegene Bewusstsein für den Klimaschutz bei diesen Wahlen noch nicht in jedem EU-Mitgliedsstaat in Mandate verwandeln. Doch die sich gerade neu formierende europaweite Klimabewegung zeigt das große Zukunftspotenzial für grüne Politik. Diese Europawahl hat gezeigt, dass lösungsorientierte Debatten, die Selbstwirksamkeitserfahrungen und gemeinsame Reflexion über die aktuellen Verhältnisse ermöglichen, in der Lage sind, viel mehr Menschen zu begeistern, als Stillstandspolitik oder Ressentiments und nationalistische Borniertheit.

Oder um es kurz zu machen: Mund aufmachen ist eben ein wirksames Mittel gegen Nazis und die Klimakrise.

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