In der WELT habe ich in einem Gastbeitrag für die Aussetzung der Patente bei Corona-Impfstoffen plädiert. Eine faire Impfstoffverteilung ist aus moralischer, aber auch aus volkswirtschaftlicher Sicht geboten.
Das wirksamste Mittel zur Eindämmung der Pandemie ist ein sicherer Impfstoff, der zügig und gerecht verteilt wird. Doch von einer zügigen und gerechten Impfstoffverteilung sind wir leider sehr weit entfernt: Während die Industriestaaten schon seit Jahresanfang ihre Bevölkerung impfen, haben über 100 Länder weltweit nicht einmal eine einzige Dosis erhalten. Modellrechnungen des US-amerikanischen „Center For Global Development“ zeigen, dass es in vielen ärmeren Ländern noch mindestens zwei Jahre dauern könnte, bis Impfstoffe dort flächendeckend vorhanden sind.
Die Ursachen dafür sind vielfältig. Ein Problem ist die Unterfinanzierung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und ihrer Instrumente. Ein weiteres betrifft die weltweite Impfstoffverteilung: Bilaterale Vorabkäufe mit Impfstoffherstellern haben eine global angelegte Impfstrategie untergraben, was die Impfstoffpreise in die Höhe getrieben hat. Manche Entwicklungsländer schließen nun selbst bilaterale Verträge mit Impfstoffherstellern. Dabei bezahlen sie teilweise deutlich höhere Preise als Industriestaaten. So muss Uganda beispielsweise über 7 US-Dollar pro Dosis AstraZeneca bezahlen, während EU-Staaten nur 2,15 US-Dollar berechnet werden.
Der WHO-Generaldirektor Tedros hat also Recht, wenn er sagt, dass die Welt bei der Pandemiebekämpfung „am Rande eines katastrophalen moralischen Versagens steht, dessen Preis die ärmeren Länder zahlen“.
Es geht aber nicht nur um ein moralisches Versagen, sondern auch um ein volkswirtschaftliches. Solange einkommensschwache Länder keinen Zugang zu den richtigen Impfstoffen zu bezahlbaren Preisen erhalten, riskieren wir nicht nur die Entstehung neuer Pandemien mit impfstoffresistenten Corona-Varianten, sondern auch die kostspielige Dauer der akuten Pandemie zu verlängern. Laut einer Untersuchung der Eurasia Group der WHO würden die zehn größten Volkswirtschaften, darunter Deutschland, durch eine global gerechte Impfstoffverteilung allein in 2020-21 153 Milliarden US-Dollar sparen.
Darüber hinaus wird die Impfstoffversorgung des Globalen Südens durch Lizenzmonopole verlangsamt. Sie verhindern, dass sich andere Hersteller an der Produktion beteiligen und Produktionskapazitäten in Schwellenländern wie Indien, Südafrika und Brasilien genutzt werden.
Bisher haben sowohl die deutsche Bundesregierung als auch die EU-Kommission davon abgesehen, die Impfstoffhersteller zur Vergabe günstiger Lizenzen zu bewegen. Deshalb hat bisher kein europäisches Pharma-Unternehmen Know-how in den Covid-19-Technology-Access-Pool (C-TAP) der WHO beigesteuert. Die EU verpasst damit die Chance, einen der wichtigen Hebel in der Pandemiebekämpfung zu nutzen und ihre Weltpolitikfähigkeit unter Beweis zu stellen. Dass die Regierungen Chinas und Russlands mit ihrer Impfdiplomatie in diese Lücke stoßen, ist längst sichtbar.
Doch es gibt eine neue Chance für die EU, ihre Versäumnisse auszubügeln. Bei der Sitzung der Welthandelsorganisation (WTO) am 10. und 11. März wird über einen Vorschlag Indiens und Südafrikas entschieden, der die temporäre Aufhebung von Patenten und Geschäftsgeheimnissen in Bezug auf die Eindämmung und Behandlung von Covid-19 vorsieht. Mittlerweile unterstützen den Antrag über 100 Entwicklungs- und Schwellenländer.
Wenn die EU-Kommission die Impfstoffhersteller nicht zur Vergabe günstiger Lizenzen bewegen kann, um so für die Erreichung der Herstellungsziele der WHO zu sorgen, sollte sie ihr Gewicht nutzen und diesem Antrag zum Erfolg verhelfen. Daneben braucht es auch einen umfassenden Wissens- und Technologietransfer, um die Produktion im Globalen Süden zu ermöglichen.
Die Qualität der zugelassenen Impfstoffe bliebe durch die bestehenden Prüf- und Zulassungsverfahren gewahrt. Öffentliche Forschungsgelder und Unterstützung für die Impfstoffentwickler blieben weiterhin als wesentliche Innovationstreiber im Kampf gegen die Pandemie bestehen. Natürlich müssten die Hersteller angemessen finanziell vergütet werden.
Bei der Bekämpfung von HIV – damals ging es um Medikamente, heute prioritär um Impfstoffe – hat die temporäre Aussetzung von Patenten große internationale Erfolge im Kampf gegen das gefährliche Virus gebracht und viele Menschenleben gerettet.
Es ist wieder an der Zeit, in einer globalen Kraftanstrengung etwas Großes zu tun.