Ein Gastbeitrag, zuerst erschienen auf watson.de.
Es gibt Politikbereiche, in denen das politisch Notwendige und das, was wir in Europa politisch zustande bringen, kaum weiter auseinanderklaffen könnten. Die europäische Asylpolitik ist einer dieser Bereiche.
Seit fast 20 Jahren wird die Verantwortung für Asylverfahren systematisch an die Staaten an der EU-Außengrenze ausgelagert. Denn seit Inkrafttreten der Dublin-Verordnung im Jahr 2003 ist das EU-Land für die Prüfung eines Asylverfahrens zuständig, über welches die asylsuchende Person in die Europäische Union eingereist ist.
Das schafft eine strukturelle Überlastung in den Staaten an den Außengrenzen und hat zur Folge, dass sich jene Staaten einer rechtsstaatlichen Prüfung der Asylgesuche zunehmend verwehren. Die Folgen sind Chaos an den EU-Außengrenzen sowie systematische Verletzungen der Rechte von Geflüchteten. Unser europäisches Asylsystem sabotiert sich damit selbst. Einst auf der Idee von Rechtsstaatlichkeit und universellen Menschenrechten errichtet, begünstigt es nun eine genau gegenteilige Praxis.
Letztes Jahr habe ich die Menschenrechtsbeauftragte des EU-Mitgliedslands Kroatien in Zagreb getroffen. Sie zeigte mir Dokumentenordner voller Fälle von systematischer Folter an Geflüchteten an der kroatisch-serbischen Grenze. Es waren Berichte und Bilder von unvorstellbarer Grausamkeit. Die Täter waren kroatische Beamte, deren Auftrag es doch eigentlich sein sollte, unsere gemeinsamen Außengrenzen auf der Basis des Europäischen Rechts zu schützen. Die kroatische Menschenrechtsbeauftragte hatte die Berichte immer wieder an die EU-Kommission und die deutsche Bundesregierung gesendet. Doch nie gab es eine Reaktion. Stattdessen lobte Innenminister Seehofer bei einem Staatsbesuch die seiner Meinung nach vorbildliche Arbeit der Grenzpolizistinnen und -polizisten in Kroatien.
Auch in Griechenland erwartet die allermeisten Menschen nach einer lebensgefährlichen Überfahrt nach Europa eine lange Zeit der Demütigung und Entmenschlichung. Der ehemalige Leiter des Camps Moria sagte mir bei einem meiner Besuche im Sommer 2019: „Die meisten Leute kommen hier kränker und traumatisierter raus, als sie hineingekommen sind.“
Ein Satz, der vieles auf den Punkt bringt, was in der europäischen Flüchtlingspolitik schiefläuft. Der Großteil der Menschen in den europäischen Lagern sind Kinder, die monatelang kein ordentliches Dach über dem Kopf haben, geschweige denn Zugang zu Bildung, einem intakten Sozialleben und ausreichender hygienischer Versorgung.
Im neuen Lager, das nach dem Brand in Moria errichtet wurde, ist die hygienische Situation sogar noch schlimmer. Es gibt keine Duschen, keine ausreichende Wasserversorgung. Bei Regen werden die dünnen Zelte überschwemmt. Selbst die Vertreterin des UNHCR Lesbos sagte uns, sie nehme nicht an, dass die Zelte dem Winter standhalten würden.
Bei meinem jüngsten Besuch vor wenigen Wochen war deutlich zu spüren, dass die Stimmung der Behörden gegenüber den Geflüchteten nochmals rauer geworden ist. Im vergangenen Sommer arbeiteten die Behörden noch mit Hilfsorganisationen zusammen, um Menschen aus Seenot zu retten. Seit März 2020 gibt es nun systematische illegale Zurückweisungen von Schutzsuchenden – auch auf See. Dabei soll niemand zuschauen, auch deswegen dürfen die NGOs nicht mehr auslaufen.
Wie Recherchen zeigen, waren in die Vorfälle auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex und in mindestens einem Fall sogar Grenzbeamtinnen beziehungsweise Grenzbeamte der deutschen Bundespolizei verwickelt. So wird das Vertrauen darauf, dass EU-Behörden die Rechtsstaatlichkeit schützen, systematisch zerstört.
Leider gibt es nicht wenige, meist konservative Politikerinnen und Politiker, die der Auffassung sind, dass härte gegenüber Geflüchteten zu zeigen politische Handlungsfähigkeit demonstriert und Kontrolle schafft. Sie versuchen, damit weniger Wählerinnen und Wähler an rechtsextreme Parteien zu verlieren. Aber die Erfahrung hat gezeigt: Das Gegenteil ist der Fall.
Wer suggeriert, man müsse sich in der Migrationspolitik zwischen Humanität einerseits und rechtsstaatlicher Kontrolle andererseits entscheiden, der setzt nicht nur Migration mit Kontrollverlust gleich, sondern beschwört darüber hinaus einen gefährlichen, künstlichen Widerspruch.
Rechtsstaatliches Handeln und humanitäre Grundsätze sind aber kein Widerspruch, sondern sie gehören zusammen.
Viel mehr noch: Rechtsstaatlichkeit schafft Humanität. Beides gegeneinander auszuspielen schürt hingegen Misstrauen in die grundlegenden Werte unseres Zusammenlebens und signalisiert: Im Zweifel nehmen wir es eben nicht so genau mit den Menschenrechten. Genau damit verliert demokratische Politik an Glaubwürdigkeit.
Wer selbst das Thema Flucht und Migration immer wieder im Kontext vermeintlich unlösbarer Probleme diskutiert, anstatt endlich die naheliegenden Dinge anzupacken und zum Beispiel das Dublin-System mit einer pragmatischen Lösung zu ersetzen, der erzeugt erst den Eindruck und dann auch tatsächliche Überforderung und tatsächlichen Kontrollverlust und Chaos. Und nichts hat dem Aufstieg der AfD und anderer rechter Kräfte in der Vergangenheit mehr geholfen.
Die Fokussierung auf scheinbar unlösbare Probleme verstellt den Blick auf die realen Handlungsmöglichkeiten. Statt mit dem Verweis auf die Uneinigkeit der EU-Länder selbst das Bild von Handlungsunfähigkeit heraufzubeschwören, sollte die Bundesregierung vorangehen und einen Verteilungsmechanismus zwischen den aufnahmebereiten Staaten initiieren. Damit ließe sich ein System etablieren, wonach die Registrierung und erste Checks an den Außengrenzen, die Verteilung und danach die Durchführung rechtsstaatlicher Asylverfahren in aufnahmebereiten EU-Staaten sowie die Möglichkeit zur finanziellen Unterstützung durch alle anderen EU-Staaten gewährleistet würde.
Eine solche pragmatische Lösung würde funktionieren auf Basis der verstärkten Zusammenarbeit und ohne das stetige Schielen auf Blockiererstaaten wie Ungarn, Dänemark oder Österreich. So könnten das Chaos und die Entrechtung an den Außengrenzen endlich gestoppt und der Weg für funktionierende, rechtsstaatliche Asylverfahren in Europa freigemacht werden.
Nur wenn wir endlich den Mut aufbringen, die strukturellen Probleme beherzt und pragmatisch zu lösen, können wir den Teufelskreis aus Leid und Chaos durchbrechen.