Von Krisen und Chancen

Die Grüne Fraktion im Europäischen Parlament ist seit dieser Europawahl so groß wie nie zuvor. Das ist auch der Tatsache zu verdanken, dass Klima- und Umweltschutz dank enormer zivilgesellschaftlicher Mobilisierung in vielen Mitgliedsländern zu einem wahlentscheidenden Thema wurde.

In Irland, Belgien, Schweden, Großbritannien, Dänemark, Österreich, Deutschland, Frankreich, Finnland, Luxemburg und in den Niederlanden hatten wir Grüne starke Ergebnisse. Doch die Resultate in Spanien, Malta, Italien, Griechenland und Zypern zeigen, dass wir noch immer mit unserer traditionellen Schwäche in Südeuropa zu kämpfen haben. In Zentral- und Osteuropa hat unsere Fraktion zwar Zuwachs durch die starken Tschechischen Piraten und baltische Regional- und Bauernparteien bekommen, doch wir haben unsere Sitze aus Ungarn und Slowenien verloren und keine neuen grünen Sitze dazugewonnen.

Ergriffene und verpasste Chancen

Immerhin zeigt die international vernetzte junge Klimabewegung, dass eine pan-europäische Mobilisierung für grüne Themen möglich ist. Initiativen für den Kohleausstieg und saubere Luft beginnen auch außerhalb Nord- und Westeuropas an Mobilisierungspotenzial zu gewinnen, wie man etwa an der erstarkenden Anti-Kohle-Bewegung in Polen oder an den großen Fridays For Future Demonstrationen in Italien sieht.

Dass die Wahlergebnisse im Gesamtbild auch bei dieser Europawahl weniger von gesamteuropäischen Trends als von nationalspezifischen Diskursen geprägt wurden, liegt vor allem daran, dass dank der Blockadehaltung der europäischen Konservativen und der Staats- und Regierungschefs wichtige Reformvorschläge zur Weiterentwicklung und Demokratisierung der Europäischen Union auf der Strecke geblieben sind. Zentrale Schritte auf dem Weg zu einer europäischen Öffentlichkeit, wie die Einführung transnationaler Listen sowie die Durchsetzung des Spitzenkandidierenden-Prinzips sind aufgrund von Mutlosigkeit und Angst vor Machtverlusten bei den Regierungschefs oder der konservativen Fraktion blockiert worden. (1)

Europas Versprechen einlösen

Doch wer eine Zukunft in einem gemeinsamen Europa erhalten will, muss demokratisierende Reformen jetzt anpacken. Laut aktuellem Eurobarometer hat sich das Image der Europäischen Union seit dem Brexit verbessert, aber gleichzeitig verneinen 46 Prozent der befragten EU-Bürger*innen die Aussage, dass ihre Stimme in der EU etwas zähle. Und auch dass wir angesichts der Zahlen zur Wahlbeteiligung, wie zum Beispiel in Tschechien von einer „hohen Wahlbeteiligung“ reden, weil diesmal 28,7 Prozent, statt 18,2 Prozent (2014) der Tschech*innen abgestimmt haben, sollte uns ebenfalls eher nachdenklich stimmen, als in Feierlaune versetzen.

Europa ist den Menschen ein Versprechen schuldig geblieben. Das Versprechen, seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Leben in Würde und Freiheit zu ermöglichen.
Stattdessen hat eine von Standortwettbewerb geprägte Wirtschaftspolitik, sowie die unsägliche Sparpolitik vielen Menschen in Europa genau das genommen und die Lebensrealitäten auseinandergetrieben – zwischen Stadt und Land, zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West. Genau daraus schöpfen nationalistische Populisten Kapital.

Wenn Europa handlungsfähige, strategische Akteurin werden soll, was gerade angesichts wachsender globaler Herausforderungen wie der Klimakrise, globaler Ungleichheit, der Wahrung von Frieden und Menschenrechten notwendig wäre, dann muss sie sich innen neu aufstellen und ihr Versprechen einlösen. Dann muss Europa allen Bürger*innen Grund- und Menschenrechte sowie soziale Rechte garantieren, sich gegen autoritäre Regierungen im Inneren durchsetzen. Deshalb muss die Grundrechte Charta auf nationales Recht ausgeweitet werden oder die Kontrolle über EU-Mittel der Staatsregierungen an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards geknüpft werden. Europa muss für eine Angleichung der Lebensverhältnisse sorgen und zum Beispiel eine europäische Mindestlohnrichtlinie und wirksame Instrumente gegen Steuerdumping auf den Weg bringen. Und Europa muss endlich das Parlament stärken und zum Beispiel mit einer nicht-kommerziell organisierten Plattform dafür sorgen, dass seine Bürger*innen europäische Nachrichtenangebote niedrigschwellig nutzen und mit europäischen Politiker*innen sowie untereinander direkt und über Sprachbarrieren hinweg in Austausch treten können.

No more Trippelschritte

Durch den Machtverlust der Konservativen und Sozialdemokraten und unseren Wahlerfolg gibt es neue Möglichkeiten, die europäische Politik mitzugestalten. Ohne unsere Fraktion wird es keine stabile und breite proeuropäische Mehrheit im Europaparlament geben. Der gestiegene Anteil antieuropäischer Kräfte sollte für die demokratischen Kräfte Ansporn zu besonderer Handlungsfähigkeit und Tatkraft sein.

Um ein inhaltliches Fundament für die Zusammenarbeit unter den proeuropäischen Parteien zu schaffen, wird aktuell über einen inhaltlichen Fahrplan für die nächsten Jahre verhandelt. Gespräche zu einem solchen Fahrplan sind eine Premiere in der Europäischen Union, da es zuvor für eine Parlamentsmehrheit nur Absprachen zwischen den Konservativen und den Sozialdemokraten bedurfte.

Das eröffnet ein Window of Opportunity für progressive Veränderungen. Wir Grüne müssen hierbei jetzt unsere ökologischen Ziele mit weiteren Gestaltungsansprüchen verbinden. Denn wir haben nun die Verantwortung, die Verhandlungen nicht nur für ambitionierte Klimapolitik, sondern auch für eine soziale und demokratische Weiterentwicklung der Europäischen Union zu nutzen. Dass die Europäische Idee innerhalb des Parlaments so stark in Frage gestellt wird wie nie zuvor, könnten wir nun in eine Chance für progressive Veränderung verwandeln. Die Zeit der Verzögerungstaktik und Trippelschritte ist vorbei.

(1) Erläuterung: Im Wahlkampf wurde das Spitzenkandidierendem-Prinzip, also die Festlegung, dass nur die vorher im Wahlkampf in Erscheinung tretenden und der Bevölkerung zur Wahl stehenden Spitzenkandidierenden der europäischen Parteifamilien für die Kommissionspräsidentschaft in Frage kommen, von den Liberalen und von Präsident Macron, torpediert. Macron will als Staatschef mehr Einfluss auf die Auswahl der nächsten Kommissionspräsidentschaft, als ihm dieses Prinzip gewähren würde. Auch darum benannten die europäischen Liberalen gleich sieben Spitzenkandidat*innen und führten die Idee damit ad absurdum. Die unter anderem von uns Grünen geforderte Einführung transnationaler Listen wurde letztes Jahr im Parlament von den Konservativen blockiert, auch weil die massiven politischen Unterschiede zwischen den nationalen Parteien in konservativen Europafraktion dann sehr deutlich zu Tage getreten wäre.

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